Tim
Meine Füße sinken tief in den Sand, und wenn es nach meinen Waden geht, habe ich es mit dem Training wohl etwas übertrieben. Der Wind peitscht mir kalt um die Ohren, aber für einen Herbsttag an der Nordsee ist das nicht unüblich. Hier weht doch fast immer eine steife Brise. Solche Dinge fallen mir eindeutig zu selten auf. Dabei sollte man sie viel öfter wertschätzen. Die Hände tief in den Taschen meiner Jacke vergraben bahne ich mir einen Weg durch unzählige Strandkörbe, die zu dieser Jahreszeit kaum Nutzung finden. Am Wattenmeer nördlich von Bremerhaven hört man heute lediglich Möwen schreien und das Wasser, der hereinkommenden Flut, dass gelegentlich auf Land trifft. Vor einem Korb in der ersten Reihe, bleibe ich stehen, atme tief ein und wende mich der Person, die darin sitzt zu.
»Du musst das nicht machen, weißt du.« Bens schwache Stimme versetzt mir einen schmerzhaften Stich in die Brust. Denn mein bester Freund ist zwar hier, doch wirklich da ist er nicht. Ich setze mich zu ihm, mustere ihn gründlich und suche nach einem Anzeichen, dafür, dass es schlimmer geworden ist. Hat er wieder abgenommen? Schläft er überhaupt? Gerade liegt er regelrecht da, in eine Decke gehüllt, das Gesicht blass und völlig eingefallen. Er geht durch die Hölle und das schon seit Wochen.
»Jedes Wochenende fährst du hierher und jedes Mal erwartet dich das Gleiche«, sagt er und unterbricht damit meine Musterung. Ich weiß, dass er das hasst.
»Du weißt, dass ich dich nicht hängen lasse.«
Bislang hatte Ben den Blick raus aufs Wasser gerichtet, jetzt sieht er mich zum ersten Mal an. Da ist vor allem Unglaube, aber auch Dankbarkeit. Weder ich, noch seine Familie hat ihn zu irgendeinem Zeitpunkt aufgegeben und das, obwohl er selbst es längst getan hat. Die Wunde an seinem Arm, die dabei ist zu heilen, ist der Beweis. Deshalb ist er hier in einer Rehaklinik an der Nordseeküste. Damit auch seine Seele einen Weg findet wieder, gesund zu werden, Ausgang ungewiss und stark bezweifle ich, dass er jemals ganz der Alte wird.
»Wie war das Essen heute?« Jede Woche stelle ich ihm diese Frage, denn sie ist unverfänglich. Ersetzt die, nach seinem Befinden. Gut geht es ihm sowieso nicht.
»Das Frühstück war ok, Mittagessen habe ich ausfallen lassen«, antwortet er und richtet den Blick wieder aufs Wasser. Ich verkneife mir eine mahnende Bemerkung und wechsle das Thema.
»Wie war die Sitzung heute früh?«
»Noch beschissener als sonst.« Er macht eine lange Atempause, dann platzt es aus ihm heraus. »Der Therapeut hat mich tatsächlich gefragt, was ich ihr sagen würde, wenn ich noch einmal die Gelegenheit dazu hätte.« Ben schnaubt und schließt für einen Moment die Augen. Ich entgegne nichts, denn das ist ganz schön hart. Diese Frage würde ich ihm niemals stellen. Obwohl es womöglich Hoffnung geben könnte. Hoffnung auf eben so eine Möglichkeit. Doch davon darf Ben nichts wissen. Er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen und das für eine vage Vermutung. Ein Hirngespinst meinerseits? Wenn ich jedoch richtig liege, dann lebt seine Seelenverwandte noch, irgendwo, weit entfernt unter einem anderen Namen. Weil sie Pech hatte und zur falschen Zeit am falschen Ort war. Wenn dem so ist, werde ich sie suchen, damit Ben wieder einen Grund hat, weiterzumachen.
»Ich mache nach dem Abi ein Praktikum beim LKA im Bereich Tierschutz.«
Ruckartig dreht Ben den Kopf in meine Richtung. Seine Augenbrauen erreichen beinahe den Haaransatz.
»Du wolltest doch direkt studieren?«
»Ich habe mich umentschieden. So könnte ich uns schon mal eine WG suchen, damit wir dann nach deinem Abschluss zusammenziehen können.« Bens Gesichtsausdruck wechselt von ungläubig, zu beinahe entsetzt.
»Das ist nicht dein Ernst? Du kannst doch nicht deine gesamten Lebenspläne ändern, nur weil ich ein Idiot bin und eine Klasse wiederholen werde.«
»Wir wissen beide, dass das nicht stimmt.«
»Tim, ich bin ein Wrack, sonst wäre ich wohl kaum hier.«
Ich möchte etwas entgegnen, aber Ben lässt mich nicht antworten.
»Jetzt komm mir nicht, mit dem, alles wird gut Scheiß.«
Doch, das wird es, sofern ich Recht habe. Wenn Emily noch lebt. In diesem Praktikum werde ich nach Antworten suchen. Antworten auf Fragen die ich seit Wochen habe, aber wie gesagt, davon kann ich Ben nichts sagen.
»Diese Arbeit hilft mir nicht nur bei der Zulassung, ich kann mir vielleicht sogar einen Teil aufs Praxissemester anrechnen lassen. Außerdem tue ich damit meinen Eltern einen Gefallen, als Wertschätzung für ihre Arbeit. Du weißt wie sehr sie sich insgeheim gewünscht hätten, ich würde zur Polizei gehen.«
Ben schnaubt, ehe er den Kopf schüttelt und sich wieder Stille zwischen uns ausbreitet.
»Das LKA also«, sagt er nach einer Weile und aus seinem Mund klingt es ein wenig spöttisch. Doch fast alles, was er in letzter Zeit sagt, klingt entweder missmutig oder eben genauso.
»Ja, ich denke das wird spannend und, wie gesagt, so suche ich uns in aller Ruhe eine WG, während du dich auf die Schule konzentrierst.«
»Falls ich danach überhaupt nach Hannover komme.«
»Wieso solltest du nicht?«
»Wir wissen beide, dass meine Chancen auf die Zulassung mit all dem hier und dem verlorenen Jahr schwindend gering sind.«
»Das ist Blödsinn. Deine Noten sind einwandfrei und Erfahrung hast du auch, ich sehe da keine Probleme.«
»Abwarten«, antwortet Ben mit düsterer Miene und gibt mir damit gleich zu verstehen, dass er das Thema nicht weiter vertiefen möchte. Es sind die kleinen Signale, auf die ich seit Emilys Tod bei ihm achte. Die mir sagen, wann es zu viel für ihn wird. Also sitzen wir da, während der Wind an unserem Strandkorb rüttelt und starren auf Watt, dass nun fast vollständig von der Flut überspült wurde. Eigentlich ein schöner Tag, an dem nur vereinzelt Wolken in bizarren Formen vorbeifliegen. Dinge die ich viel zu selten wahrnehme. Seit Emily nicht mehr da ist fallen sie mir aber auf. Zeigen wie unwichtig unsere kleinen Alltagsprobleme sind.
»Sie ist und bleibt die Erste.«
»Was meinst du?«, frage ich, als Ben unser Schweigen unterbricht.
»Ich würde ihr sagen, dass sie meine Nummer eins ist und es immer bleiben wird. Dass ich nie jemanden so lieben werde wie sie.« In Bens Augen sammeln sich Tränen und ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Aber das wird sie nie erfahren.«
»Irgendwann, denke ich sehen wir alle unsere geliebten Menschen wieder.«
Nun schüttelt er heftig den Kopf.
»Nein, dem ist nicht so.« Seine Stimme bricht, bevor er einen tiefen Atemzug nimmt. Die Stille, die jetzt zwischen uns herrscht, fühlt sich tonnenschwer an.
»Sie war nicht da Tim. Als ich weg war, bevor Dad mich zurückgeholt hat. Ich habe weder mein eigenes Leben an mir vorbeiziehen sehen, noch war Emily dort. Damit ist die Sache klar, ich werde sie nie mehr wiedersehen.«
Schnell lege ich den Arm um meinen besten Freund und ziehe ihn an mich. Seine Schultern beben und auch ich kann die Tränen nicht zurückhalten. Ich halte Ben und weiß, dass ich alles tun werde, um dafür zu sorgen, dass eben diese Realität nicht eintritt.
Copyright: Emilia Schneider, 2025